E-Mail als „Kulturtechnik“ und als „Allgemeingut“

Die “Belebungsmaßnahmen für die behördliche Kopfgeburt namens De-Mail“ (©) nehmen Fahrt auf. Nach mehr und mehr Gesetzentwürfen soll sie die Signatur verdrängen. Das gilt für den Bereich der Verwaltung – auf den Referentenentwurf für ein E-Government-Gesetz habe ich schon hingewiesen – ebenso wie für den der Justiz. Die Länder Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen haben einen „Diskussionsentwurf einer Bundesratsinitiative für ein Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz“ vorgelegt, der ebenfalls die Signatur durch De-Mail ersetzen möchte.

Der Entwurf sieht einerseits einen enormen Bedarf an einer „elektronisch“ erreichbaren Justiz, andererseits aber eine angesichts dessen verblüffenden Zurückhaltung in der Nutzung des schon heute vorhandenen Angebots. Die Rechtsanwälte als wesentliche „Kunden“ der Justiz zögern danach, ihrerseits den elektronischen Rechtsverkehr als Kommunikationsweg zu akzeptieren und zu nutzen oder aktiv zu fördern (Entwurf S. 70). Am LG Stuttgart gingen im gesamten Jahr 2011 lediglich 425 Schriftsätze, davon 73 Klageschriften, auf elektronischem Wege ein – bei insgesamt 8895 neuen Klageverfahren im gleichen Zeitraum (Radke, Zwischen Wagemut und Angststarre – Elektronischer Rechtsverkehr und elektronische Aktenführung in der Justiz, ZRP 2012, 113 Fn. 5). Anders sei das, hebt der Entwurf hervor, wo bereits gesetzlicher Zwang besteht wie beim Handelsregister und beim Mahnantrag. Dort habe der elektronische Rechtsverkehr seine  Praxistauglichkeit als Massenverfahren und seinen Nutzen für alle Beteiligten unter Beweis gestellt.

Die Lösung: Zwang überall. Und zugleich Hürden abbauen.

Zunächst soll jeder Rechtsanwalt verpflichtet werden, den Zugang für elektronische Nachrichten der Gerichte (und später dann wohl auch: Behörden) zu öffnen und hierfür „diejenigen kommunikationstechnischen Einrichtungen vorzuhalten, die erforderlich sind, um den Empfang von gerichtlichen elektronischen Dokumenten mit Eingangsbestätigung zu ermöglichen.“ In einem zweiten Schritt sollen die Länder nach fünf Jahren die Möglichkeit erhalten, Rechtsanwälten auch die Einreichung elektronischer Schriftsätze vorzuschreiben, wozu die elektronische Aktenführung bei Gericht gehört. Im dritten Schritt dann soll diese Verpflichtung nach zehn Jahren im Bundesrecht verankert werden.

Zum Hürdenabbau gehört die Ermöglichung alternativer Sicherungsmöglichkeiten wie etwa De-Mail und der neue Personalausweis. Hierzu heißt es in dem Entwurf (S. 76):

Zukunftsträchtig erscheint insoweit insbesondere die De-Mail. Da die Nutzung des De-Mail-Kontos wiederum nur nach vorheriger persönlicher Identifizierung möglich ist, entsteht eine hohe Sicherheit, dass die vom Gericht empfangene De-Mail tatsächlich von der als Absender ausgewiesenen Person stammt und diese aktuell über ein gültiges De-Mail-Konto verfügt. Im Zusammenhang mit der grundsätzlich verschlüsselten Übertragung der De-Mail entsteht so ein Übertragungsszenario, das den Anforderungen an Authentizität, Integrität und Vertraulichkeit einer in der Regel mit höchst schützenswerten personenbezogenen Daten versehenen Nachrichten und Dokumenten genügt und sich zugleich im Wesentlichen des als „Kulturtechnik“ etablierten E-Mailings als Ausgangspunkt bedient.

und später (S. 93):

Die Eröffnung des Zugangs über die De-Mail lehnt sich an den Gedanken an, dass es sich bei dem von der De-Mail genutzten Übertragungsformat um dasjenige handelt, das sich in den letzten Jahren als gesellschaftliches „Allgemeingut“ durchgesetzt hat: die E-Mail, die allerdings bei der De-Mail mit notwendigen Sicherheitsvorbehalten ausgestattet ist und verschlüsselt übertragen wird.

Und warum nicht die elektronische Signatur?

Seit Beginn der rechtsverbindlichen elektronischen Kommunikation [hat sich] die qualifizierte elektronische Signatur als Hemmschuh für den elektronischen Rechtsverkehr erwiesen.

(Entwurf S. 1 und 92; Radke ebd.)

Das auch, weil ihr ein oft kritisiertes Manko anhaftet. Nach der Konzeption des Signaturgesetzes soll die qualifizierte Signatur die händische Unterschrift nachbilden. In vielen Fällen wird die Erklärung aber nicht für den Erklärenden, sondern einen Dritten abgegeben: Die Instititution, für die er arbeitet, sei es eine Behörde, ein Gericht oder eine Firma. Dem Kunden ist es egal, ob Hans Müller die Rechnung der Telekom unterschrieben hat; das Geld schuldet er ihr, nicht ihm. Bei Behörden ist es nicht anders. In der Papierwelt ist Vertrauensanker der Briefkopf, nicht die kaum leserliche Unterschrift. Für Signaturen fehlte ein entsprechender Ansatz. Attribute, gar Attributzertifikate sind zu aufwendig.

Die damit fehlende „Organisationssignatur“ sieht der Entwurf nun vor. Diese soll „ausschließlich der signierenden Organisationseinheit als Signaturschlüssel-Inhaber zugeordnet“ sein. Im Ansatz sinnvoll, doch geht der Verweis auf den Signaturschlüssel-Inhaber fehl, nach § 2 Nr. 9 SigG eine „natürliche Person“ und eben keine „Organisationseinheit“. Zudem beschränkt der Entwurf diese Signatur auf „Behörden, Gerichten, Körperschaften des öffentlichen Rechts und Anstalten des öffentlichen Rechts (Organisationen nach dem Signaturgesetz)“ (ebd. S. 47).

Die Anwaltschaft ist nicht begeistert, wie die Stellungnahme Nr. 6/2012 der BRAK zeigt. Das aber, interessanterweise, nicht wegen der ins Auge gefassten Inpflichtnahme der Rechtsanwälte:

Die BRAK macht sich nachhaltig für die flächendeckende verpflichtende Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs  stark. Anders sieht dies offenbar der vorgelegte Entwurf… [Seine] Öffnungsklauseln haben stark abschreckende Wirkung; sie sind im Hinmblick auf das Ziel, denelektronischen Rechtsverkehr zu stärken und vor allem zu vereinheitlichen, kontraproduktiv.

Sondern wegen der geplanten Abkehr von der Signatur:

Nur Qualifizierte Elektronische Signaturen sind sicher

Die BRAK ist keineswegs der Auffassung, dass qualifizierte elektronische Signaturen ein Hindernis für die Verbreitung und die Akzeptanz des elektronischen Rechtsverkehrs sind, jedenfalls nicht im Bereich der „professionellen Nutzer“ der Justiz. … Erst die Pflicht zur Erzeugung qualifizierter elektronischer Signaturen wird dem Maß der Verantwortung gerecht, das Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege zu übernehmen haben. Nicht anderes sollte nach Auffassung der BRAK für die „professionellen Nutzer“ des Verfahrens des elektronischen Rechtsverkehrs auf Seiten der Justiz gelten.

… weshalb die BRAK auch die vorgeschlagene „Organisationssignatur“ als „nicht personenbezogene ‚Stempelsignatur'“ ablehnt.

Und gegen die De-Mail spricht aus ihrer Sicht die fehlende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die beim derzeitigen Stand der Technik beim EGVP gegeben sei.

Zum letzten Punkt siehe K § 1 Rdnr. 35 ff. und 69 sowie K § 5 Rdnr. 25; zum Verhältnis von De-Mail-Gesetz und Signaturgesetz siehe K § 1 Rdnr. 47 ff.