Die Elektronische Verfassungsbeschwerde kommt

Die vor einem Jahr gestellte Frage kann nun wohl mit guter Sicherheit bejaht werden: Die elektronische Verfassungsbeschwerde kommt.

Anders als die anderen Gerichte nimmt bislang das Bundesverfassungsgericht nicht am elektronischen Rechtsverkehr teil. Eine per De-Mail erhobene Verfassungsbeschwerde ist daher unzulässig.

Das soll geändert werden. Der vom Bundeskabinett Mitte August 2023 beschlossene Gesetzentwurf sieht die Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs und die Möglichkeit der elektronischen Rechtsverkehrs ebenso wie in den anderen Prozessordnungen vor: Schriftsätze können elektronisch eingereicht werden (§ 23a Abs. 1 BVerfGG-E), wenn die Datei technisch bearbeitbar ist (§ 23a Abs. 2 BVerfGG-E). Sie sind hierfür qualifiziert zu signieren oder auf einem sicheren Übermittlungsweg einzureichen (§ 23a Abs. 3 BVerfGG-E), zu denen die bekannten Wege absenderbestätigte De-Mail, beA, beN, beSt, beBPo, eBO, OZG gehören — und künftig auch (als besonderes OZG) „Mein Justizpostfach (MJP)“, § 23a Abs. 4 BVerfGG-E. Rechtsanwält:innen und Behörden müssen elektronisch einreichen, § 23c BVerfGG-E. Das Gericht kann seine Akten künftig elektronisch führen, § 23d BVerfGG-E.

Die Bundesrechtsanwaltskammer begrüßt den Entwurf und vor allem den Gleichlauf mit den anderen Verfahrensordnungen, vermisst aber eine Pflicht zur elektronischen Zustellung durch das Gericht, das heißt den verpflichtenden elektronischen Rückkanal. Die Neue Richtervereinigung drängt auf eine rasche Einführung der E-Akte, aus ökologischen und aus Kosten-Gründen. Der Deutsche Anwaltverein stimmt dem Entwurf ebenfalls zu, bittet aber um die Möglichkeit, auch die Prozessvollmacht elektronisch einreichen zu können, und die elektronischen Akten online einzusehen. Der Rechtsausschuss des Bundesrates ist dem beigetreten (BR-Drs. 441/1/23).

Der EDV-Gerichtstag hingegen befasst sich als einziger mit dem zuerst genannten sicheren Übermittlungsweg, der De-Mail:

Bekanntlich ist der Weg des Schriftformersatzes über die absenderbestätigte De-Mail in Justiz und Verwaltung bisher kaum genutzt worden. Deshalb wird für die Verwaltungskommunikation bereits über die Abschaltung des De-Mail-Weges diskutiert. Ob dessen explizite Aufnahme in das BVerfGG noch sinnvoll ist, scheint zweifelhaft.

Deutscher EDV-Gerichtstag, Stellungnahme zum Gesetzentwurf, 20. Juli 2023

Der Bundesrat wird sich am 20. Oktober 2023 im Plenum mit dem Gesetzentwurf befassen und ihn dann wieder dem Bundestag zuleiten.

Im August 2024 „endet in der Verwaltung De-Mail, endlich!!!“

postete (und twitterte) der Bundes-CIO Staatssekretär Dr. Markus Richter (#GernPerDu) jüngst, mit drei Ausrufezeichen.

Die Nachricht wurde rasch auf den üblich verdächtigen Seiten weiterverbreitet, mit jeweils ähnlichem Inhalt (aber einem individuellen Cookie-Overlay): Das 2012 durch Frau Merkel persönlich am Cebit-Stand der Telekom gestartete Projekt war von Anfang an wenig beliebt, umständlich und teuer. Experten zerrissen es in der Luft. Millionen wurden versenkt, für eine Handvoll Nutzer. Vor zwei Jahren stieg die Telekom vom „toten Gaul“. Nun reicht es auch dem Bund, der damit der wiederholten Forderung des Rechnungshofs entspricht, das Gesamtprojekt auf den Prüfstand zu stellen und schlechtem Geld kein Gutes nachzuwerfen (sunk cost).

Der Regierungswechsel hat sicherlich geholfen, doch auch ein weiterer Umstand. Warum nämlich endet der jahrzehntelange Versuch nun gerade („endlich!!!“) Ende August 2024? Die Antwort hat Christian Wölbert auf heise.de, von wo alle anderen abschreiben:

Grundlage für die Abschaltung von De-Mail in der öffentlichen Verwaltung sei das Auslaufen des Rahmenvertrags mit dem Provider FP Digital Business Solutions, erklärte das BMI auf Nachfrage von c’t. Dieser laufe Ende August 2024 aus. Eine rechtliche Umsetzung des De-Mail-Endes befinde sich „aktuell noch in Prüfung“.

Christian Wölbert, Bundesregierung kündigt Ende von De-Mail in der Verwaltung an, 8. Juni 2023

Dieser Anbieter, vormals Mentana Claimsoft, ist einer von nur noch zwei verbliebenen De-Mail-Dienstleistern. Der andere, 1&1 mit der Marke web.de, ist not amused. Und hält trotzig an dem von ihm so lange geduldig begleiteten Projekt fest:

Jan Oetjen, CEO von GMX und Web.de, kritisierte gegenüber c’t die Entscheidung der Bundesregierung: „De-Mail bleibt der einzige interoperable und verfügbare Standard für die rechtsverbindliche digitale Kommunikation in Deutschland, den wir weiter anbieten.“ Statt immer wieder neue isolierte Konzepte vorzustellen, solle man die bestehenden umsetzen und „in Interoperabilität denken“. Sonst falle Deutschland in der Digitalisierung immer weiter zurück.

Christian Wölbert, Bundesregierung kündigt Ende von De-Mail in der Verwaltung an, 8. Juni 2023

Spannend ist der Satz des BMI, man prüfe aktuell die rechtliche Umsetzung. Der dort jüngst erarbeitete Entwurf des „Online-Zugangsgesetzes 2.0“ (BR-Drs. 226/23) schafft es immerhin, auf 80 Seiten das Wort „De-Mail“ nur genau einmal zu erwähnen: als eine Möglichkeit, die Schriftform zu erfüllen, und zwar „mit der Versandart nach § 5 Absatz 5 des De-Mail-Gesetzes (§ 3a Absatz 2 Satz 4 Nummer 2 f. VwVfG)“. Ansonsten zeigt es den auch von Richter herausgestellten Weg auf: die Schaffung einer „BundID“ (für Bürger) und eines „Unternehmenskontos“, im Gesetz „Bürgerkonto“ bzw. „Organisationskonto“ genannt (§ 2 Abs. 5 OZG n. F.). Das EGVP der Justiz soll nicht angetastet werden.

Ebenfalls unangetastet bleibt — vorerst — die Verpflichtung der Bundesbehörden auf De-Mail-Konten, § 2 Abs. des E-Government-Gesetzes:

EGovG § 2. Elektronischer Zugang zur Verwaltung. (2) Jede Behörde des Bundes ist verpflichtet, den elektronischen Zugang zusätzlich durch eine De-Mail-Adresse im Sinne des De-Mail-Gesetzes zu eröffnen, es sei denn, die Behörde des Bundes hat keinen Zugang zu dem zentral für die Bundesverwaltung angebotenen IT-Verfahren, über das De-Mail-Dienste für Bundesbehörden angeboten werden.

Jedenfalls vordergründig. Eventuell ist die Passage auch heute noch so zu lesen, wie es die Gesetzesbegründung von vor zehn Jahren (BR-Drs. 557/12) nahelegt: dass der Bund sich hier verpflichtete, für jede seiner Behörden ein De-Mail-Konto zu eröffnen. Vielleicht aber ergibt die rechtliche Prüfung des BMI unter genauer Exegese der damaligen Erwägungen auch das Gegenteil: Dass die Bundesbehörden nur darauf verpflichtet werden, sich dem bestehenden IT-Verfahren anzuschließen. Woran es dann fehlt, wenn das BMI den Vertrag mit FP nicht verlängert. Was deshalb unschädlich wäre, weil niemand der De-Mail nachtrauert:

[H]insichtlich der Kommunikation insbesondere zwischen dem Bürger/der Bürgerin und Behörden gilt, dass auch diese darum bemüht sein sollten, für die Kommunikation mit dem Bürger/der Bürgerin De-Mail zu verwenden, wenn dieser es fordert. Eine Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und öffentlicher Stelle mittels De-Mail setzt voraus, dass auch die Behörde sich entschieden hat, De-Mail zu nutzen, denn anderenfalls könnte der Bürger/die Bürgerin der Behörde keine De-Mail senden. Die Behörde soll also den Bürger/die Bürgerin nicht ohne Grund auf andere Kommunikationswege als auf den über De-Mail verweisen können.

entwurf zum E-Government-Gesetz, BR-Drs. 557/12

„wenn dieser [Bürger] es fordert“: Die Behörden müssen nur („auch“) ein De-Mail-Konto haben, um einen echten Bedarf decken zu können. Und nicht für die vernachlässigbar kleine Anzahl an De-Mails, die tatsächlich eingehen.

Bei diesem Verständnis könnte De-Mail still und heimlich sterben gehen. Näher am „endlich!!!“ des Staatssekretärs liegt aber ein (unendlich langweiliges Artikel-) Gesetz, das ehrenhalber die Reste zusammenkehrt und sie würdevoll beerdigt.

De-Mail im Rechnungsprüfungsausschuss

heise.de berichtet über eine Nachricht des Tagesspiegels: Der Bundesrechnungshof hat sich in einer nicht veröffentlichten Ausschussvorlage an den Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages gewandt, der hierüber am 18. November 2022 (nicht öffentlich) beraten hat.

Hintergrund ist der Bericht der Rechnungsprüfer 2021, in dem sie dem BMI vorrechneten, dass das vollmundige Versprechung der Geldeinsparung durch De-Mail nicht aufgegangen ist:

[Das BMI] erwartete, dass diese innerhalb der ersten vier Jahre nach der Einführung bis zu 6 Millionen De-Mails versenden würden. Gegenüber der Briefpost sollte De-Mail in den Jahren 2016 bis 2019 bis zu 3,5 Mio. Euro einsparen. Tatsächlich versandten die Behörden des Bundes in diesem Zeitraum nur 6 000 anstatt der erwarteten 6 Millionen De-Mails. Sie sparten demnach knapp 3 500 Euro ein. In den Jahren 2011 bis 2020 gab der Bund für De-Mail mindestens 6,5 Mio. Euro aus.

Bericht der Rechnungsprüfer 2021, BT-Drs. 20/180 S. 102

Dem vorangegangen war der Bericht über die Prüfung 2019, in der der Bundesrechnungshof schon einmal die ernüchternden Zahlen sprechen ließ:

Gemäß dem ersten Szenario [des BMI 2012] sollte der Nutzungsgrad für den Zeitraum von fünf Jahren nach Einführung auf 9 750 000 De-Mails steigen. Das zweite Szenario wies 4 875 000 De-Mails aus. …
Ab dem Jahr 2014 evaluierte und berichtete das BMI mehrmals zu De-Mail in der Bundesverwaltung. Mit seiner Erhebung im Sommer 2016 berichtete es von 86 versandten De-Mails.
Dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik lagen ab September 2016 Statistiken vor. Bis Mai 2019 versandte die Bundesverwaltung 6 019 De-Mails über das zentrale De-Mail-Gateway. … Durchschnittlich haben die [Bundes]behörden [in der gesamten Zeit also] ca. 154,7 De-Mails empfangen und ca. 81,8 versandt.

Bundesrechnungshof, Abschließende Mitteilung Über die Prüfung zur De-Mail 2019

Dieses Gateway allein schlägt nach dem im Jahr 2012 vom BMI entwickelten Betriebskonzept mit kalendertäglichen 1.000 € zu Buche.

Im ersten Nutzungsjahr versandte die Bundesverwaltung 472, im zweiten Nutzungsjahr 2.675, im dritten Nutzungsjahr 2 014 und im vierten Nutzungsjahr 858 De-Mails über das zentrale De-Mail-Gateway.

Bundesrechnungshof, Abschließende Mitteilung Über die Prüfung zur De-Mail 2019

Im Ergebnis fand der Rechnungshof schon damals erstaunlich deutliche Worte zur Zukunft der Technologie: Das BMI solle das Vorhaben De-Mail gänzlich neu bewerten. „Dabei sollte die Bundesregierung auch die Option betrachten, De-Mail als rechtssicheres elektronisches Kommunikationsmittel nicht weiter zu verfolgen.“

Ob die Bundesregierung diese Option betrachtet hat, wissen wir nicht — sie hat sich jedenfalls nicht zur Einstellung des Projektes durchringen können, und hielt noch 2021 daran fest. Das kritisierte der Bundesrechnungshof in seinem Bericht deutlich und wiederholte im letzten Satz die kaum verhohlene Forderung, die nicht wirtschaftliche De-Mail aufzugeben.

Und noch immer ist dies nicht erfolgt. Daran hat auch die Aufgabe des „toten Gauls“ durch die Telekom als dem größten De-Mail-Anbieter nichts geändert. Vielmehr entstanden nun neue Bedarfe: die Adressen und Postfächer mussten zu einem der verbliebenen Anbieter umgezogen werden — laut heise.de zu Francotyp-Postalia („Wir halten an der De-Mail fest!“). (Frag den Staat möchte gern den zugrundeliegenden Rahmenvertrag haben.) Die Länder dagegen nutzen vorwiegend 1&1 — auch die Justiz mit dem De-Mail-Gateway zum EGVP.

Die Hartleibigkeit des BMI wurmt den Rechnungshof ersichtlich. Entsprechend ist die Eskalation zum Parlament die wahre Nachricht.

Kommt die elektronische Verfassungsbeschwerde?

Update zu Keine Verfassungsbeschwerde per De-Mail:

Die Anwaltschaft ist zu Recht angefressen:

Auch wir erwarten die Übermittlung elektronischer Dokumente. Es ist nicht einzusehen, dass die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und andere professionell Einreichende noch Jahre zuwarten müssen, bis die Gerichte flächendeckend selbst nur noch elektronische Dokumente übermitteln. Wir sind nicht in Vorleistung gegangen, um richterliche Druckstraßen zu beliefern!

Martin Schafhausen, „Die Anwalt­schaft hat gelie­fert, wo bleibt die Justiz?“, LTO vom 14. Juni 2022

Das betrifft auch die Verfassungsbeschwerde:

Mit der Kutsche zum BVerfG?

Auch wenn es regelmäßig nicht zur täglichen Routine gehört, Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder den Landesverfassungsgerichten zu führen, scheint es anachronistisch, dass die Verfassungsgerichte nicht über die in den anderen Verfahrensordnungen genannten sicheren Übermittlungswege zu erreichen sind. Auch dies sollte sich zeitnah ändern.

Martin Schafhausen, „Die Anwalt­schaft hat gelie­fert, wo bleibt die Justiz?“, LTO vom 14. Juni 2022

Und die Politik hat gehört! Schreibt LTO:

Überzeugt hat Schafhausen mit seiner Kritik nun offenbar die Grünen im Bundestag. Deren Parlamentarischer Geschäftsführer und frühere Hamburger Justizsenator Dr. Till Steffen hat sich mit einem Schreiben an Bundesjustizminister Marco Buschmann gewandt. Mit der „dringlichen Bitte“, das BVerfG ins digitale Zeitalter zu versetzen.
Auch beim BVerfG, so der Jurist, müssten daher künftig die Einreichung von Verfassungsbeschwerden „per beA, E-Mail oder DE-Mail“ möglich sein.

„Sie werden mir wohl zustimmen, dass die Übermittlung per Post oder Telefax mit den Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag, hinsichtlich des modernen, leistungsfähigen Staates, nicht in Einklang zu bringen ist. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Kommunikation per beA für Amts-, Landes- und Bundesgerichte verpflichtend ist, wenn das Bundesverfassungsgericht, als höchstes deutsches Gericht, nicht einmal die Möglichkeit zur digitalen Übermittlung bietet“, schreibt Steffen.

Hasso Suliak, Schrift­sätze nach Karls­ruhe bald per beA und E-Mail?, LTO vom 20.10.2022

Die LTO hat vorsorglich schon einmal die De-Mail aus der Liste der Zugangswege gekürzt, die Steffen nennt. Zumindest im Titel.

Das mühsame Ende der De-Mail

Tim Gerber berichtet für c’t:

Wer seine De-Mails aus dem Telekom-Postfach sichern will, um auch nach völliger Abschaltung des Dienstes Ende November noch Zugriff darauf zu haben, scheitert bislang an unzureichenden Funktionen der De-Mail-Nutzeroberfläche bei der Telekom. Die erlaubt derzeit nur maximal zehn Mails gleichzeitig zu archivieren. Für Nutzer mit vollem Postfach kaum praktikabel.

Tim Gerber, Das Ende von De-Mail bei der Telekom: Widrigkeiten und Unklarheiten, c’t vom 11. September 2022

Für diesen Fall hat § 11 De-Mail-Gesetz vorgesorgt. Ein De-Mail-Anbieter muss die Einstellung seiner Tätigkeit nicht nur so früh wie möglich („unverzüglich“) der zuständigen Behörde anzeigen. Er hat auch dafür zu sorgen, dass das De-Mail-Konto von einem anderen akkreditierten Diensteanbieter übernommen werden kann. (Er muss also nicht für die Übernahme sorgen, sie nur — technisch — ermöglichen.) Jedenfalls muss er sicherstellen, dass die Nutzer ihre Nachrichten und Dokumente noch für wenigstens drei Monate abrufen können.

Das Abrufenkönnen für sich klappt sicher. Mehr aber nicht unbedingt. Ein Export-Tool steht erst seit kurzem bereit. Und auch der ja primär beabsichtigte Umzug zu einem anderen Provider ist offenbar technisch — herausfordernd.

Der Umzug zu anderen Providern bereitet kommerziellen und öffentlichen De-Mail-Nutzern mitunter Schwierigkeiten. … Auf Nachfrage von c’t, warum sich der fällige Providerwechsel verzögere, hieß es seitens der VBL, man sei bereits zu Beginn des Jahres aktiv geworden, um den Providerwechsel zu einem neuen De-Mail-Diensteanbieter anzustoßen. Allerdings sei es bei dem von der Telekom angekündigten Umzugsservice zu erheblichen Verzögerungen gekommen.

Tim Gerber, Das Ende von De-Mail bei der Telekom: Widrigkeiten und Unklarheiten, c’t vom 11. September 2022

Die erste Frage wäre natürlich: Wohin auch umziehen? Jedoch: 1&1 hat seine Akkreditierung erst im März 2022 erneuert.

Erschossener toter Gaul abgewatscht

Der Bundesrechnungshof hat das BMI für den erschossenen toten Gaul abgewatscht:

Das BMI ist gescheitert, De-Mail als elektronisches Pendant zur Briefpost in der Bundesverwaltung zu etablieren. Verwaltung, Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen nutzen De-Mail fast gar nicht zur elektronischen Kommunikation.

Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2021

Und kritisiert das Fehlen einer Erfolgskontrolle. Die Ziele, 6 Millionen versandte De-Mails der Bundesverwaltung allein, und damit eingesparte Portokosten von 3,5 Millionen Euro, seien bei weitem nicht erreicht, zudem aber nicht einmal nachgehalten worden.

[Das BMI] erwartete, dass diese innerhalb der ersten vier Jahre nach der Einführung bis zu 6 Millionen De-Mails versenden würden. Gegenüber der Briefpost sollte De-Mail in den Jahren 2016 bis 2019 bis zu 3,5 Mio. Euro einsparen. Tatsächlich versandten die Behörden des Bundes in diesem Zeitraum nur 6 000 anstatt der erwarteten 6 Millionen De-Mails. Sie sparten demnach knapp 3 500 Euro ein. In den Jahren 2011 bis 2020 gab der Bund für De-Mail mindestens 6,5 Mio. Euro aus.

Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2021 S. 95

Die Wirtschaftswoche rechnet flugs nach:

Eine Mail an den Staat? Macht 1000 Euro!

Wirtschaftswoche vom 2. Dezember 2021 S. 95

Was natürlich Quark ist: Der Bundesrechnungshof spricht von 6.000 durch die Bundesbehörden versandten Mails (bei Gesamtkosten von 6,5 Mio. Euro). Richtiger wäre also: „Mail vom Staat“. Die Dimension stimmt aber trotzdem: Das kaum genutzte Tool kostete pro Mail ein wirklich deutliches Sümmchen Geldes. Und das nicht nur für die Bundesverwaltung. Die Telekom etwa gab einen dreistelligen Millionenbetrag aus. Die anderen Unternehmen wohl nicht ebenso viel, aber auch mehr als die hier genannten 6,5 Millionen.

Das Geld ist weg und kommt nicht wieder. Weshalb der Bundesrechnungshof an die sunk cost fallacy erinnert: Der Bund möge nicht gleichwohl, sondern deshalb erwägen, den Dienst abzuschalten.

Angesichts der bisherigen Entwicklung ist nicht ersichtlich, dass Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen De-Mail als Angebot der Bundesverwaltung künftig häufiger nutzen werden. Das BMI hat die Ursachen hierfür zu ermitteln. Anschließend muss es entscheiden, inwieweit De-Mail neben einem digitalen Postfach noch sinnvoll in der Bundesverwaltung genutzt werden kann. Dabei hat es auch zu betrachten, De-Mail als Kommunikationsmittel für die Bundesverwaltung aufzugeben.

Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2021 S. 99

Bedauerlicherweise geht der Staat mit dem eBO gerade genau denselben Weg noch einmal. Diesmal unter der Federführung des BMJ. Wieder ein Postfach mit gesicherter Identifikation (diesmal duch Notare), diesmal Ende zu Ende verschlüsselt — aber nur für die Kommunikation mit den Gerichten (und Anwälten), nicht auch untereinander. Dieser Staat traut seinen Bürgern nicht.

Toter Gaul, erschossen

Die Telekom, so erzählen es alle nach dem Bericht des Spiegel vom 31. August 2021, „schaltet De-Mail ab“. Das ist eine so schöne Technik-Metapher, da kann niemand widerstehen:

Na gut, die Tagesschau schon:

Die Einzelheiten hat, wie gesagt, Marcel Rosenbach im Spiegel:

Viele Unternehmen und Behörden bekommen in diesen Tagen überraschende Post von der Deutschen Telekom. Das Bonner Unternehmen verschickt Kündigungen – für einen Dienst, den wohl auch viele Kunden längst vergessen haben…

Man habe sich »strategisch entschieden, den De-Mail-Dienst aufgrund fehlender Wirtschaftlichkeit nur noch bis Ende August 2022 anzubieten«, heißt es in den Kündigungsschreiben an Geschäftskunden. Im September sollen auch die Privatkunden vom bevorstehenden Ende des Angebots unterrichtet werden…

Die Entscheidung, aus De-Mail auszusteigen, sei aber erst in diesem Sommer gefallen, hieß es in Unternehmenskreisen. Hintergrund war offenbar ein auslaufender Rahmenvertrag mit dem Bundesinnenministerium.

Marcel Rosenbach, Telekom schaltet De-Mail Ab, Der Spiegel, 31. Aug. 2021

Das ist in der Tat ein harterSchlag für die in hunderten Gesetzen als „sicherer Übermittlungsweg“ an Behörden und Gerichte verankerte De-Mail. Ohne die Telekom als den weitaus größten Anbieter bleibt die De-Mail allenfalls das Nischenprojekt, das sie zehn Jahre lang war. Wahrscheinlicher ist das rasche Ende dieser Technik. Die weiteren Anbieter Mentana-Claimsoft und 1&1 werden kaum alleine weiter machen können. Jan Oetjen fordert kaum verholen schon (weitere) Subventionen, direkt und indirekt:

Man sei im Gespräch und prüfe Optionen, den bisherigen Telekom-Kunden Angebote für eine »unterbrechungsfreie Fortführung ihrer De-Mail-Konten zu machen«, bestätigt der Geschäftsführer von WEB.DE und GMX, Jan Oetjen. Wichtig dafür seien allerdings »die weitere staatliche Unterstützung sowie die Ausweitung der Nutzung«. Als ein Beispiel nennt Oetjen die zahllosen immer noch per Post zugestellten Behördenbriefe, die einen großen Anteil am jährlichen Briefvolumen hätten.

Marcel Rosenbach, Telekom schaltet De-Mail Ab, Der Spiegel, 31. Aug. 2021

Tim Höttges hat dem Toten Gaul den Gnadenschuss verpasst.

Toter Gaul — die Kommentare

Auch Golem bringt die Nachricht vom toten Gaul. Schön sind hier vor allem die Kommentare, die so manchen Einblick in die Wirklichkeit der De-Mail erlauben.

Zum Beispiel zu den immer wieder kolportierten Nutzerzahlen. Wulfman schreibt:

Man wollte bei uns im Konzern Kosten für die Zustellung von Post-Gehaltsabbrechungen sparen. Da wir bei De-Mail an der „Quelle“ sitzen, hatte plötzlich jeder Mitarbeiter ein, „teil-„aktiviertes, De-Mail-Postfach erhalten… Wir hatten damals gedacht das hätte man AUCH gemacht um auf dem weg die De-Mail-Zahlen nach oben zu drücken: über 150.000 Adressen – in kurzer Zeit. Mehr als De-Mail wohl je genutzt haben… gab riesige Entrüstung, Proteststürme so das man sich genötigt sah das ganze ganz schnell wieder zu deaktivieren…. Den Scheiß wollten nicht mal die Mitarbeiter haben….

Wulfman, Zwangs-De-Mail’isierung war bei uns ein Flop

Oder zur tatsächlichen Nutzung. Hier ist schon die Überschrift Gold:

Das einzige was ich je per DE-Mail bekommen habe waren Rechnungen für DE-Mail
Ich verwalte den DE-Mail-Account unserer Behörde, da wir leider verpflichtet sind, einen zu haben. Das einzige, was in den ganzen Jahren per DE-Mail an uns geschickt wurde, sind Rechnungen für den DE-Mail-Account.

IZE, Das einzige was ich je per DE-Mail bekommen habe waren Rechnungen für DE-Mail

Auch diese Praxiserfahrung dürfte exemplarisch sein:

Ich hab mir damals einen Account geholt, aber nie genutzt. Vor einigen Monaten bekam ich Ware aus China, bei denen der Zoll zu viel berechnet hatte. Auf dem Zollbeleg war eine De-Mail-Adresse angegeben, also war für mich klar, jetzt schlägt die Stunde des alten Accounts!

Ich schrieb also eine De-Mail, fügte die passenden Formulare und Rechnungen an und musste dafür auch einige Cent Gebühren abdrücken. Nach etlichen Wochen bekam ich dann per Briefpost Antwort vom Zollamt, dass man meine an eine „gewöhnliche E-Mail-Adresse“ gesandte Anfrage nicht bearbeiten könne und ich ein Formular aus dem Internet runterladen, ausfüllen und dieses dann per Post schicken soll.

rabbit_70, Meine Erfahrung mit De-Mail

Insgesamt kann man die Kommentare wohl so zusammenfassen: Es überwiegt weiterhin die Kritik.

Toter Gaul

Auch das steht schon fast überall, nun eben auch hier: Der Telekom-Chef hat die De-Mail zum „toten Gaul“ erklärt, und den Ausstieg des Unternehmens verkündet.

De-Mail sei »überkompliziert« und ein »toter Gaul«, sagte Höttges. Es habe trotz Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe »nie jemanden gegeben, der dieses Produkt genutzt hat«, deshalb habe man den Dienst »eingestellt«.

Telekom-Chef erklärt De-Mail zum »toten Gaul«, Der Spiegel vom 26. Februar 2021

Das Zitat stimmt, das Framing im Spiegel-Artikel ist aber etwas unglücklich: Das „ausführliche, fast zweistündige Interview mit dem YouTuber Tilo Jung“ befasst sich eine ganze Minute lang mit der De-Mail; drumherum geht es um alles andere bei der Telekom, von der NSA in den europäischen Datennetzen, den Umgang mit Corona in der Telekom und überhaupt, dem Internet of Things, den Auftritt in anderen europäischen Ländern, bis hin zu den Aussichten im Amerika-Geschäft, und und und.

Ab ca. 1:13:00 geht es los: Telekom-Vorstandsvorsitzender Timotheus („Tim“) Höttges hat soeben die Grenzen des Konzepts „fail fast“ erläutert, des schnellen Eingestehens, gescheitert zu sein. Congstar beispielsweile, die günstige Mobilfunkmarke der Telekom, sei anfangs sehr langsam angelaufen. Er habe um Geduld geworben, nun sei es ein profitables Erfolgsmodell mit über 500 Millionen Euro Umsatz. Anders dagegen De-Mail:

Wir hatten mal die Idee der sicheren, verschlüsselten E-Mail für die gesamte Kommunikation des Rechtsverkehrs und der öffentlichen Kommunikation. Das war ein Auftrag aus dem Innenministerium damals, das zu machen. Rein auf privatwirtschaftlicher Initiative. Wir haben mit United Internet ein entsprechendes Produkt aufgebaut, und dergleichen. Wir haben einen dreistelligen Millionenbetrag investiert, aber es hat nie jemanden gegeben, der dieses Produkt genutzt hat, weil es einfach überkompliziert war. Wir haben in dem Raum hier gesessen und haben gesagt: „Wisst ihr was, wir können jetzt noch lange auf einem toten Gaul reiten, der wird deswegen nicht schneller.“ Und haben das Produkt eingestellt.

Tim Höttges, im Interview mit Thilo Jung, Jung & Naiv vom 18. Februar 2021

Marcel Rosenbach freut sich im Spiegel sichtlich über die markigen Worte, ordnet sie aber richtig ein: Das Unternehmen habe rasch erklärt, der Dienst sei nicht eingestellt, nur die Vermarktung gestoppt. Bestandskunden würden weiter versorgt. Die anderen Projektbeteiligten wie United Internet und Mentana Claimsoft teilten die Einschätzung nicht. Auch Hal Faber hält die Nachricht vom Tod der De-Mail für übertrieben: „Nur dann treibt mich die Frage herum, woher eigentlich diese deprimierenden Mitteilungen der Deutschen Rentenversicherungen kommen, die mir per De-Mail geschickt werden“, und resümiert:

Nein, De-Mail war kein Erfolgsmodell, doch für ein paar Spezialanwendungen durchaus zu gebrauchen. Vielleicht rappelt er sich nochmal auf, der alte Gaul.

Hal Faber, Was War. Was Wird. vom 28. Februar 2021

Vielleicht ja aber auch nicht. Mit den Behörden, die wir nun einmal haben. Der bei United Internet für die De-Mail zuständige Jan Oetjen etwa beklagt sich:

Während Nutzerinnen und Nutzer sich im Homeoffice oder beim Homeschooling schnell auf neue Technologien eingestellt haben, gibt es gerade aufseiten von Behörden noch Nachholbedarf. So sehen wir zum Beispiel durchaus Steigerungen im Bereich der rechtssicheren Kommunikation über De-Mail. Viele Behörden hinken hier aber noch weit hinterher und tun sich daher schwer, für die Bürger digital erreichbar zu sein.

Jan Oetjen im Interview mit den Badischen Neuesten Nachrichten, 27. Februar 2021

Das Innenministerium reitet den „toten Gaul“, so es denn einer ist, auch ohne die Telekom weiter. Das Justizministerium schafft lieber eigene Untote.

Bürger- statt De-Mail-Postfach?

Die LTO berichtet:

Das Bundesjustizministerium (BMJV) hat einen Referentenentwurf für ein Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vorgelegt. So sollen auch Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Sachverständige oder auch Gerichtsvollzieher und andere am Prozessgeschehen Beteiligte am elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten teilnehmen können.

Um das zu ermöglichen, soll laut Entwurf ein sogenanntes „besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach (kurz: eBO)“ möglichst kostenfrei eingerichtet werden. Das eBO soll den schriftformersetzenden Versand elektronischer Dokumente an die Gerichte sowie die Zusendung elektronischer Dokumente durch die Gerichte an die Postfachinhaber ermöglichen…

Das Konzept kommt Ihnen bekannt vor? Ein kostenloses Postfach eines sicheren elektronischen Postfach- und Versanddienstes für elektronische Nachrichten, das einen gesetzlich zugelassenen sicheren Übermittlungsweg zum Gericht eröffnet? All dies bietet seit Jahren — De-Mail.

Es nutzt nur keiner. Das konstatiert (erneut) der Referentenentwurf:

Für [andere Prozessbeteiligte als im Wesentlichen Anwält:innen] besteht bislang nur die Möglichkeit, mittels einer qualifizierten elektronischen Signatur oder über den De-Mail-Dienst elektronische Dokumente bei den Gerichten einzureichen. Sowohl die Nutzung qualifizierter elektronischer Signaturen als auch die Nutzung des De-Mail-Systems sind in der Praxis allerdings kaum verbreitet.

Referentenentwurf S. 1

Um dann aber nicht zu fragen, warum dies so ist. Wo die Hindernisse liegen, die wie auszuräumen sind. Stattdessen heißt es nur lapidar:

Sie [= Signatur und De-Mail] weisen zudem strukturelle Nachteile auf und sind für eine zukunftsweisende, umfassende elektronische Kommunikation nicht geeignet.

Referentenentwurf S. 1

Warum? Hierzu schweigt der Entwurf. Stattdessen erkennt er an:

Auch die De-Mail-Kommunikation stellt einen sicheren Übermittlungsweg dar, der auch für Bürgerinnen und Bürger, für Unternehmen sowie sonstige privatrechtliche Vereinigungen offensteht.

Referentenentwurf S. 26

Und kommt daher letztlich überraschend zu der Lösung:

Es bedarf daher der Schaffung zusätzlicher elektronischer Kommunikationswege, um auch diese Personengruppen, Unternehmen, Organisationen und Verbände in die sichere elektronische Kommunikation mit den Gerichten einzubinden.

Referentenentwurf S. 1

Das BMJV schlägt in der Folge mit dem „besonderen elektronischen Bürger- und Organisationenpostfach (kurz: eBO)“ nichts anderes vor als ein justizeigenes De-Mail-System. Justizeigen nicht nur, weil es auf die ebenfalls rein justizspezifische EGVP- bzw. OSCI-Übertragungstechnik baut. Justizeigen auch deshalb, weil dieses System allein für die Kommunikation mit der Justiz geeignet ist. Die für die gesamte Infrastruktur des Systems aufkommen muss: Netzwerktechnik, Intermediär- und Postfachserver nebst Datensicherung und Datzenschutz, Identifizierungsstellen und Anmeldedienste, Nutzerverwaltung. Angesichts dessen ist es schon fast nicht mehr euphemistisch zu nennen, dass der Entwurf all diese Kosten schlicht vernachlässigt, und behauptet:

E. Erfüllungsaufwand

Keiner. Der für die Implementierung der neu geschaffenen Übermittlungswege entstehende Kostenaufwand wird durch die erheblichen Sachkosteneinsparungen kompensiert, welche dadurch zu erwarten sind, dass Übermittlungen in Papierform langfristig durch die elektro-nische Übermittlung ersetzt werden.

Referentenentwurf S. 2 und 20 f.

Müller sieht dies ebenfalls kritisch, und merkt zu Recht an:

Die optimistische Annahme einer „erheblichen“ Sachkosteneinsparung darf aber dennoch nach den bislang gesammelten Erfahrungen bezweifelt werden. Nicht zu unterschätzen dürfte der im Referentenentwurf nicht benannte Erfüllungsaufwand für die Länder durch die Errichtung von Prüfstellen bzw. die personelle und technische Erweiterung der bereits eingerichteten beBPo-Prüfstellen sein, sofern diese die Aufgaben im Identifikationsprozess gem. § 11 Abs. 1 ERVV-E wahrnehmen sollen. Hier dürfte ein erheblicher manueller Prüfaufwand entstehen, der nur durch einen deutlichen Stellenaufwachs mit mittleren Dienst leistbar sein dürfte.

Müller, Referentenentwurf: ERV-Bürgerpostfach und Zustellungsfiktion (30.12.2020)

Und wofür all der Aufwand? Für ein bürgerfreundlicheres, leichter zu nutzendes und gleichwohl sichereres System als De-Mail? Schön wäre es. Letztlich sucht der Entwurf die nicht allseits so empfundene Erfolgsgeschichte des besonderen elektronischen Anwaltspostfach fortzuschreiben. Dieses ist mit seinen Cousins beN (besonderes elektronisches Notarpostfach) und beBPo (besonderes elektronisches Behörden-Postfach) in § 130a Abs. 4 Nr. 2 und 3 ZPO (mit § 31 BRAO und § 78n BNotO) als „sicherer Übermittlungsweg“ zu Gericht festgeschrieben. Betrieb und Nutzerverwaltung obliegt den Rechtsanwalts- bzw. Notarkammern hier und den Landesverwaltungen für die Behörden dort. Sie müssen auch den sicheren Zugang der Nutzer zum System (im Sinne einer Absenderkontrolle) und den sicheren Zugang der gerichtlichen Nachrichten zum Nutzer (im Sinne einer Empfangskontrolle) in einem Maße gewährleisten, auf das die Justiz sich verlassen kann. Und damit all das leisten, was auch De-Mail bietet: Nutzeridentifizierung und -verwaltung, Nachrichtentransport, Postfachdienste, Zustellungen.

Das beO soll dies nun auch. Nur dass es keine Standesvertretungen all der

Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Organisationen, Verbände sowie andere am Prozessgeschehen Beteiligte, beispielsweise Sachverständige, Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, Dolmetscherinnen und Dolmetscher oder speziell für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit beispielsweise auch Sozialverbände, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

Referentenentwurf S. 1

gibt, denen diese Aufgabe zugewiesen werden könnte. Die entsprechende Infrastruktur soll also — wiederum — parallel aufgebaut werden. Die Einzelheiten finden sich in einem neuen Kapitel 4 der Elektronischen Rechtsverkehr-Verordnung. Darin heißt es nach dem aktuellen Entwurf:

§ 10 Besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach

(1) Natürliche Personen, juristische Personen sowie sonstige privatrechtliche Vereinigungen können zur Übermittlung elektronischer Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg ein besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach verwenden,

1. das auf dem Protokollstandard OSCI oder einem diesen ersetzenden, dem jeweiligen Stand der Technik entsprechenden Protokollstandard beruht,

2. bei dem die Identität des Postfachinhabers geprüft worden ist,

3. bei dem der Postfachinhaber in ein sicheres elektronisches Verzeichnis eingetragen ist,

4. bei dem sich der Postfachinhaber beim Versand eines elektronischen Dokuments authentisiert und

5. bei dem feststellbar ist, dass das elektronische Dokument vom Postfachinhaber versandt wurde.

(2) Das besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach muss

1. über eine Suchfunktion verfügen, die es ermöglicht, Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs, eines besonderen elektronischen Notarpostfachs oder eines besonderen elektronischen Behördenpostfachs aufzufinden,

2. für Inhaber besonderer elektronischer Anwaltspostfächer, besonderer elektronischer Notarpostfächer oder besonderer elektronischer Behördenpostfächer adressierbar sein und

3. barrierefrei sein im Sinne der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung.

Referentenentwurf S. 8

Die vorgesehene Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlichkeit; schön, dass sie noch einmal in Erinnerung gerufen wird. Gut auch, dass die verschiedenen Postfächer miteinander reden können und interoperabel bis hin zur Adresssuche sein sollen. Das kann E-Mail seit Jahrzehnten, und sogar De-Mail ist dazu in der Lage. Aufwändig ist wie erwähnt die Nutzer- und Zugangsverwaltung nach Absatz 1 Nr. 2, 4 und 5. Mehr hierzu findet sich in § 11 des Entwurfs. Danach bestimmen „die Länder oder mehrere Länder gemeinsam … jeweils für ihren Bereich eine öffentlich-rechtliche Stelle, die nach Prüfung der Identität des Inhabers eines besonderen elektronischen Bürger- und Organisationenpostfachs die Freischaltung des Postfachs veranlasst.“ Der Bund nimmt also schulterzuckend die Länder in die Pflicht. Und schreibt ihnen in Absatz 2 als Identifizierungsmittel vor: den „elektronischen Identitätsnachweis“ des neuen Personalausweises, ein qualifiziertes elektronisches Siegel, bei Dolmetschern und Gerichtsvollziehern eine Behördenauskunft, oder als Nr. 5: „eine in öffentlich beglaubigter Form abgegebene Erklärung über den Namen und die Anschrift.“ Das für all diejenigen, „die nicht über einen elektronischen Identitätrsnachweis verfügen“. Der Entwurf hat offenbar größere Freude daran, die mühseligen Einzelheiten des notarielles Identifizierungsprozesses auszubreiten (Entwurf S. 34 f), dessen Kosten er mit etwa 50 Euro annimmt (ebd. S. 21). Wie viele Notare begeistert sein werden über diese bescheidene Beurkundungstätigkeit, wird leider ebenso wenig erwähnt wie die Anzahl derjenigen, die all diese Mühen und Kosten auf sich nehmen möchten.

Denn was ist der Vorteil des De-Mail-Klons? (Beim Original kann man sich immerhin zu Hause identifizeren lassen. Ganz ohne Notar.) Ist denn wenigstens der Versand einfacher? Auch hier: nein. Denn für den „sicheren Übermittlungsweg“ bedarf es, wie bei der De-Mail, einer „sicheren Anmeldung“. Also eines weiteren Faktors neben Passwort und Benutzername. Bei beN und beA ist es eine Chipkarte, ganz ähnlich der für eine qualifizierte elektronische Signatur. (Die abzulösen das beA ursprünglich angetreten war.) Bei der De-Mail ist es der neue Personalausweis — oder schlicht eine mTAN per SMS, mit dem Handy als zweitem Faktor. Und beim beO? Der neue Personalausweis. Etwas Unmögliches. Oder Zauberei.

§ 11 ERVV-neu. Identifizierung und Authentisierung des Postfachinhabers. (3) Der Postfachinhaber hat sich beim Versand eines elektronischen Dokuments zu authentisieren durch

1. den elektronischen Identitätsnachweis nach § 18 des Personalausweisgesetzes oder nach § 78 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes,

2. ein Authentisierungszertifikat, das auf einer qualifizierten elektronischen Signaturerstellungseinheit nach dem Anhang II der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 gespeichert ist, oder

3. ein nichtqualifiziertes Authentisierungszertifikat, das über Dienste validierbar ist, die über das Internet erreichbar sind.

Referentenentwurf S. 9.

Doch was nun ist das „nichtqualifizierte Authentisierungszertifikat“? Das weiß auch der Entwurf nicht. Er verweist auf die Hersteller der Software, ohne die eine Nutzung nicht möglich sein wird. Davon gibt es nach dem Entwurf zwei. Von denen eine „derzeit … kostenlos zur Verfügung gestellt“ wird, derweil die andere „für eine Gebühr von monatlich fünf Euro“ erhältlich ist, künftig wohl zehn. Wer die Kosten der „kostenlosen“ Software tragen soll, verrät der Entwurf nicht. Letztlich doch die Länder, auf die ja „keine weiteren Kosten“ zukommen?

Alles in allem: Nicht nur „die Grundannahme der Problem- und Zielbestimmung ist nach den bisherigen Erfahrungen eher unvollständig„, wie Müller leicht kritisch einschätzt. Den Entwurf „unausgegoren“ zu nennen ist zu freundlich. Er ist auch nicht nur unnötig. Er ist schlicht kontraproduktiv. Es bedarf nicht noch einer digitalen Infrastruktur parallel zur De-Mail und parallel zu den Verwaltungs-Bürgerkonten nach dem Online-Zugangsgesetz. Die Ressorts sollten sich zusammenreißen und -setzen. BMI, BMWi, BMF und BMJV sollten sich auf ein Postfach einigen, mag es Bürger-, Anwalts-, Notar- oder Wieauchimmer-Postfach heißen. Gern auch e-Boks, wie in Dänemark. Das staatlich verwaltet wird und dessen Nutzung obligatorisch ist. Für Steuern, Kfz-Zulassung und alle anderen Verwaltungskontakte nicht anders als für die Kommunikation mit der Justiz. Das aber dafür von Hause aus Ende zu Ende verschlüsselt ist und gerade keine Überwachungsverpflichtung eingebaut hat. Was könnte da für Geld und Aufwand gespart werden. Auch Geld der Internetfirmen wie Telekom und 1&1 übrigens, die den De-Mail-Traum des BSI bezahlen mussten. Andererseits haben ja andere Firmen gut Geld verdient an dem Versuch des BMJV, De-Mail als beA und beN nachzubauen. Es ist nur wirtschaftlich unsinnig. Dass es zudem nicht zielführend ist, zeigt nichts besser als das Beispiel Dänemark. Wo inzwischen jede:r Bürger:in eine e-Boks hat und digital kommuniziert. Hiervon sind wir weit entfernt. Und werden es dank solcher Initiativen noch lange sein.

Ceterum censeo.