Bürger- statt De-Mail-Postfach?

Die LTO berichtet:

Das Bundesjustizministerium (BMJV) hat einen Referentenentwurf für ein Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vorgelegt. So sollen auch Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Sachverständige oder auch Gerichtsvollzieher und andere am Prozessgeschehen Beteiligte am elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten teilnehmen können.

Um das zu ermöglichen, soll laut Entwurf ein sogenanntes „besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach (kurz: eBO)“ möglichst kostenfrei eingerichtet werden. Das eBO soll den schriftformersetzenden Versand elektronischer Dokumente an die Gerichte sowie die Zusendung elektronischer Dokumente durch die Gerichte an die Postfachinhaber ermöglichen…

Das Konzept kommt Ihnen bekannt vor? Ein kostenloses Postfach eines sicheren elektronischen Postfach- und Versanddienstes für elektronische Nachrichten, das einen gesetzlich zugelassenen sicheren Übermittlungsweg zum Gericht eröffnet? All dies bietet seit Jahren — De-Mail.

Es nutzt nur keiner. Das konstatiert (erneut) der Referentenentwurf:

Für [andere Prozessbeteiligte als im Wesentlichen Anwält:innen] besteht bislang nur die Möglichkeit, mittels einer qualifizierten elektronischen Signatur oder über den De-Mail-Dienst elektronische Dokumente bei den Gerichten einzureichen. Sowohl die Nutzung qualifizierter elektronischer Signaturen als auch die Nutzung des De-Mail-Systems sind in der Praxis allerdings kaum verbreitet.

Referentenentwurf S. 1

Um dann aber nicht zu fragen, warum dies so ist. Wo die Hindernisse liegen, die wie auszuräumen sind. Stattdessen heißt es nur lapidar:

Sie [= Signatur und De-Mail] weisen zudem strukturelle Nachteile auf und sind für eine zukunftsweisende, umfassende elektronische Kommunikation nicht geeignet.

Referentenentwurf S. 1

Warum? Hierzu schweigt der Entwurf. Stattdessen erkennt er an:

Auch die De-Mail-Kommunikation stellt einen sicheren Übermittlungsweg dar, der auch für Bürgerinnen und Bürger, für Unternehmen sowie sonstige privatrechtliche Vereinigungen offensteht.

Referentenentwurf S. 26

Und kommt daher letztlich überraschend zu der Lösung:

Es bedarf daher der Schaffung zusätzlicher elektronischer Kommunikationswege, um auch diese Personengruppen, Unternehmen, Organisationen und Verbände in die sichere elektronische Kommunikation mit den Gerichten einzubinden.

Referentenentwurf S. 1

Das BMJV schlägt in der Folge mit dem „besonderen elektronischen Bürger- und Organisationenpostfach (kurz: eBO)“ nichts anderes vor als ein justizeigenes De-Mail-System. Justizeigen nicht nur, weil es auf die ebenfalls rein justizspezifische EGVP- bzw. OSCI-Übertragungstechnik baut. Justizeigen auch deshalb, weil dieses System allein für die Kommunikation mit der Justiz geeignet ist. Die für die gesamte Infrastruktur des Systems aufkommen muss: Netzwerktechnik, Intermediär- und Postfachserver nebst Datensicherung und Datzenschutz, Identifizierungsstellen und Anmeldedienste, Nutzerverwaltung. Angesichts dessen ist es schon fast nicht mehr euphemistisch zu nennen, dass der Entwurf all diese Kosten schlicht vernachlässigt, und behauptet:

E. Erfüllungsaufwand

Keiner. Der für die Implementierung der neu geschaffenen Übermittlungswege entstehende Kostenaufwand wird durch die erheblichen Sachkosteneinsparungen kompensiert, welche dadurch zu erwarten sind, dass Übermittlungen in Papierform langfristig durch die elektro-nische Übermittlung ersetzt werden.

Referentenentwurf S. 2 und 20 f.

Müller sieht dies ebenfalls kritisch, und merkt zu Recht an:

Die optimistische Annahme einer „erheblichen“ Sachkosteneinsparung darf aber dennoch nach den bislang gesammelten Erfahrungen bezweifelt werden. Nicht zu unterschätzen dürfte der im Referentenentwurf nicht benannte Erfüllungsaufwand für die Länder durch die Errichtung von Prüfstellen bzw. die personelle und technische Erweiterung der bereits eingerichteten beBPo-Prüfstellen sein, sofern diese die Aufgaben im Identifikationsprozess gem. § 11 Abs. 1 ERVV-E wahrnehmen sollen. Hier dürfte ein erheblicher manueller Prüfaufwand entstehen, der nur durch einen deutlichen Stellenaufwachs mit mittleren Dienst leistbar sein dürfte.

Müller, Referentenentwurf: ERV-Bürgerpostfach und Zustellungsfiktion (30.12.2020)

Und wofür all der Aufwand? Für ein bürgerfreundlicheres, leichter zu nutzendes und gleichwohl sichereres System als De-Mail? Schön wäre es. Letztlich sucht der Entwurf die nicht allseits so empfundene Erfolgsgeschichte des besonderen elektronischen Anwaltspostfach fortzuschreiben. Dieses ist mit seinen Cousins beN (besonderes elektronisches Notarpostfach) und beBPo (besonderes elektronisches Behörden-Postfach) in § 130a Abs. 4 Nr. 2 und 3 ZPO (mit § 31 BRAO und § 78n BNotO) als „sicherer Übermittlungsweg“ zu Gericht festgeschrieben. Betrieb und Nutzerverwaltung obliegt den Rechtsanwalts- bzw. Notarkammern hier und den Landesverwaltungen für die Behörden dort. Sie müssen auch den sicheren Zugang der Nutzer zum System (im Sinne einer Absenderkontrolle) und den sicheren Zugang der gerichtlichen Nachrichten zum Nutzer (im Sinne einer Empfangskontrolle) in einem Maße gewährleisten, auf das die Justiz sich verlassen kann. Und damit all das leisten, was auch De-Mail bietet: Nutzeridentifizierung und -verwaltung, Nachrichtentransport, Postfachdienste, Zustellungen.

Das beO soll dies nun auch. Nur dass es keine Standesvertretungen all der

Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Organisationen, Verbände sowie andere am Prozessgeschehen Beteiligte, beispielsweise Sachverständige, Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, Dolmetscherinnen und Dolmetscher oder speziell für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit beispielsweise auch Sozialverbände, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

Referentenentwurf S. 1

gibt, denen diese Aufgabe zugewiesen werden könnte. Die entsprechende Infrastruktur soll also — wiederum — parallel aufgebaut werden. Die Einzelheiten finden sich in einem neuen Kapitel 4 der Elektronischen Rechtsverkehr-Verordnung. Darin heißt es nach dem aktuellen Entwurf:

§ 10 Besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach

(1) Natürliche Personen, juristische Personen sowie sonstige privatrechtliche Vereinigungen können zur Übermittlung elektronischer Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg ein besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach verwenden,

1. das auf dem Protokollstandard OSCI oder einem diesen ersetzenden, dem jeweiligen Stand der Technik entsprechenden Protokollstandard beruht,

2. bei dem die Identität des Postfachinhabers geprüft worden ist,

3. bei dem der Postfachinhaber in ein sicheres elektronisches Verzeichnis eingetragen ist,

4. bei dem sich der Postfachinhaber beim Versand eines elektronischen Dokuments authentisiert und

5. bei dem feststellbar ist, dass das elektronische Dokument vom Postfachinhaber versandt wurde.

(2) Das besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach muss

1. über eine Suchfunktion verfügen, die es ermöglicht, Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs, eines besonderen elektronischen Notarpostfachs oder eines besonderen elektronischen Behördenpostfachs aufzufinden,

2. für Inhaber besonderer elektronischer Anwaltspostfächer, besonderer elektronischer Notarpostfächer oder besonderer elektronischer Behördenpostfächer adressierbar sein und

3. barrierefrei sein im Sinne der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung.

Referentenentwurf S. 8

Die vorgesehene Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlichkeit; schön, dass sie noch einmal in Erinnerung gerufen wird. Gut auch, dass die verschiedenen Postfächer miteinander reden können und interoperabel bis hin zur Adresssuche sein sollen. Das kann E-Mail seit Jahrzehnten, und sogar De-Mail ist dazu in der Lage. Aufwändig ist wie erwähnt die Nutzer- und Zugangsverwaltung nach Absatz 1 Nr. 2, 4 und 5. Mehr hierzu findet sich in § 11 des Entwurfs. Danach bestimmen „die Länder oder mehrere Länder gemeinsam … jeweils für ihren Bereich eine öffentlich-rechtliche Stelle, die nach Prüfung der Identität des Inhabers eines besonderen elektronischen Bürger- und Organisationenpostfachs die Freischaltung des Postfachs veranlasst.“ Der Bund nimmt also schulterzuckend die Länder in die Pflicht. Und schreibt ihnen in Absatz 2 als Identifizierungsmittel vor: den „elektronischen Identitätsnachweis“ des neuen Personalausweises, ein qualifiziertes elektronisches Siegel, bei Dolmetschern und Gerichtsvollziehern eine Behördenauskunft, oder als Nr. 5: „eine in öffentlich beglaubigter Form abgegebene Erklärung über den Namen und die Anschrift.“ Das für all diejenigen, „die nicht über einen elektronischen Identitätrsnachweis verfügen“. Der Entwurf hat offenbar größere Freude daran, die mühseligen Einzelheiten des notarielles Identifizierungsprozesses auszubreiten (Entwurf S. 34 f), dessen Kosten er mit etwa 50 Euro annimmt (ebd. S. 21). Wie viele Notare begeistert sein werden über diese bescheidene Beurkundungstätigkeit, wird leider ebenso wenig erwähnt wie die Anzahl derjenigen, die all diese Mühen und Kosten auf sich nehmen möchten.

Denn was ist der Vorteil des De-Mail-Klons? (Beim Original kann man sich immerhin zu Hause identifizeren lassen. Ganz ohne Notar.) Ist denn wenigstens der Versand einfacher? Auch hier: nein. Denn für den „sicheren Übermittlungsweg“ bedarf es, wie bei der De-Mail, einer „sicheren Anmeldung“. Also eines weiteren Faktors neben Passwort und Benutzername. Bei beN und beA ist es eine Chipkarte, ganz ähnlich der für eine qualifizierte elektronische Signatur. (Die abzulösen das beA ursprünglich angetreten war.) Bei der De-Mail ist es der neue Personalausweis — oder schlicht eine mTAN per SMS, mit dem Handy als zweitem Faktor. Und beim beO? Der neue Personalausweis. Etwas Unmögliches. Oder Zauberei.

§ 11 ERVV-neu. Identifizierung und Authentisierung des Postfachinhabers. (3) Der Postfachinhaber hat sich beim Versand eines elektronischen Dokuments zu authentisieren durch

1. den elektronischen Identitätsnachweis nach § 18 des Personalausweisgesetzes oder nach § 78 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes,

2. ein Authentisierungszertifikat, das auf einer qualifizierten elektronischen Signaturerstellungseinheit nach dem Anhang II der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 gespeichert ist, oder

3. ein nichtqualifiziertes Authentisierungszertifikat, das über Dienste validierbar ist, die über das Internet erreichbar sind.

Referentenentwurf S. 9.

Doch was nun ist das „nichtqualifizierte Authentisierungszertifikat“? Das weiß auch der Entwurf nicht. Er verweist auf die Hersteller der Software, ohne die eine Nutzung nicht möglich sein wird. Davon gibt es nach dem Entwurf zwei. Von denen eine „derzeit … kostenlos zur Verfügung gestellt“ wird, derweil die andere „für eine Gebühr von monatlich fünf Euro“ erhältlich ist, künftig wohl zehn. Wer die Kosten der „kostenlosen“ Software tragen soll, verrät der Entwurf nicht. Letztlich doch die Länder, auf die ja „keine weiteren Kosten“ zukommen?

Alles in allem: Nicht nur „die Grundannahme der Problem- und Zielbestimmung ist nach den bisherigen Erfahrungen eher unvollständig„, wie Müller leicht kritisch einschätzt. Den Entwurf „unausgegoren“ zu nennen ist zu freundlich. Er ist auch nicht nur unnötig. Er ist schlicht kontraproduktiv. Es bedarf nicht noch einer digitalen Infrastruktur parallel zur De-Mail und parallel zu den Verwaltungs-Bürgerkonten nach dem Online-Zugangsgesetz. Die Ressorts sollten sich zusammenreißen und -setzen. BMI, BMWi, BMF und BMJV sollten sich auf ein Postfach einigen, mag es Bürger-, Anwalts-, Notar- oder Wieauchimmer-Postfach heißen. Gern auch e-Boks, wie in Dänemark. Das staatlich verwaltet wird und dessen Nutzung obligatorisch ist. Für Steuern, Kfz-Zulassung und alle anderen Verwaltungskontakte nicht anders als für die Kommunikation mit der Justiz. Das aber dafür von Hause aus Ende zu Ende verschlüsselt ist und gerade keine Überwachungsverpflichtung eingebaut hat. Was könnte da für Geld und Aufwand gespart werden. Auch Geld der Internetfirmen wie Telekom und 1&1 übrigens, die den De-Mail-Traum des BSI bezahlen mussten. Andererseits haben ja andere Firmen gut Geld verdient an dem Versuch des BMJV, De-Mail als beA und beN nachzubauen. Es ist nur wirtschaftlich unsinnig. Dass es zudem nicht zielführend ist, zeigt nichts besser als das Beispiel Dänemark. Wo inzwischen jede:r Bürger:in eine e-Boks hat und digital kommuniziert. Hiervon sind wir weit entfernt. Und werden es dank solcher Initiativen noch lange sein.

Ceterum censeo.